Bildkritik 1: Portrait von Jürgen aus Wien

Vor einigen Tagen hatte ich dazu aufgerufen, mir Eure Bilder zur Kritik einzuschicken (und das gilt weiterhin!).
Gleich mehrere Fotografen sind dem Aufruf in kürzester Zeit gefolgt.

Sehr schön finde ich auch, dass das Niveau der eingesandten Arbeiten sehr unterschiedlich ist. So kann ich hoffentlich Tipps und Hinweise geben, die einem großen Teil meiner Leserschaft auch helfen.

Wir beginnen mit einem Bild von Jürgen, der mir seine Arbeit mit folgender Beschreibung übersandte:

  • aus den ganzen Bildern, die ich an dem Tag gemacht habe, gehört das zu jenen, das mir am besten gefällt.
  • Ich habe indirekt mit einem Diffusor geblitzt um zu starke Reflexionen auf der Haut, aber auch zu starken Schatten, zu vermeiden. Der Kampf mit dem Schatten war dabei das Schlimmste! 😉
  • Bild wurde nachträglich nur soweit bearbeitet, dass ich die Haut etwas geglättet, Zähne aufgehellt und im Bild allgemein die Helligkeit etwas erhöht habe. Bei der Hautglättung war ich nie sicher, wie weit schaut es gut aus und ab wann wird es kitschig.

Jürgens Portrait-Bild von "Susi"

Zum Bild gibt es aus meiner Sicht eine Menge zu sagen. Anfangen möchte ich mit 2 sehr typischen Anfängerfehlern.

Das erste Problem ist der Bildaufbau. Laut allgemeiner Regel ist das Motiv nie mittig zu platzieren, da das aus ästhetischer Sicht wenig ansprechend ist. Viel besser wirkt eine Aufteilung gemäß des goldenen Schnitts oder, vereinfacht, nach der Drittel-Regel.


Natürlich gibt es Ausnahmen von dieser Regel, z.B. wenn eine Symmetrie besonders herausgestellt werden soll.

Fashion Photography Fotografie Photographie Michael Gelfert
Bei manchen Bildern kann eine mittige Positionierung des Motivs funktionieren - das ist aber eher die Ausnahme.

In unserem konkreten Fall beim Bild von Jürgen ergibt sich links wie rechts des Gesichtes “toter”, ungenutzter Raum – auch eine Verschwendung von Auflösung. Eine andere, deshalb häufig zu empfehlende und praktizierte Lösung ist das Verwenden des Hochformats für Portraits. Damit ergibt sich meist eine viel bessere Ausnutzung der Kameraauflösung. Bildwichtiger Teil sind immer die Augen, die wieder nicht in der Mitte sondern z.B. im oberen Drittel platziert werden sollten.
Soll das Format (und das Bildverhältnis) beibehalten werden, ist ein Beschnitt der sich an der 2/3-Regel orientiert sinnvoll.

Besserer Bildaufbau Variante 1: Hochformat (Beschnitt)
Besserer Bildaufbau Variante 1: Hochformat (Beschnitt)

Besserer Bildaufbau Variante 2: Zwei-Drittel-Regel (Beschnitt)
Besserer Bildaufbau Variante 2: Zwei-Drittel-Regel (Beschnitt)

Fehler Nummer 2 findet sich nicht nur im Bild, sondern vor allem in Jürgens Beschreibung. Er wollte [alle] Schatten vermeiden, “kämpfte” regelrecht gegen die Schatten.

Viele Anfänger glauben, ein möglichst schattenloses Bild ist ein gutes Bild.
Dabei wirkt ein Bild “ohne” Schatten vor allem flach und langweilig. Entscheidend ist nicht, Schatten komplett zu eliminieren, sondern sie gezielt einzusetzen.
Wenn man von “Lichtführung” spricht, könnte man ebenso “Schattenführung” sagen. Denn schon ein altes Sprichtwort lehrt, dass es kein Licht ohne Schatten gibt.
Wichtig ist, Schatten wie Licht gezielt zu formen und einzusetzen und somit Strukturen und Formen zu verstecken oder zu betonen.

Beauty Photography Fotografie Photographie Michael Gelfert
Dieses auf den ersten Blick vermeintlich schattenlose Bild lebt vom Spiel von Licht und Schatten auf der Haut des Models - mal genau hinschauen!

Jürgen möchte offensichtlich eine möglichst schmeichelhafte Darstellung der abgebildeten Person, das zeigt seine Retusche und die Wahl der eher poppig-bunt und jugendlich wirkenden Farbgestaltung.

Dabei hat er es sich mit der Wahl seines Modells aber nicht unbedingt einfach gemacht. Offensichtlich ist es keine 20 mehr, deutlich Fältchen und andere Alterszeichen sind – auch nach der Retusche – recht offensichtlich. Das macht es, gerade für den Anfänger, deutlich schwieriger ein dem optimalen Schönheits- (und Jugend-)ideal nahekommendes Bild zu erschaffen.
Damit will ich nicht sagen, dass nicht auch ältere Modells fotografiert werden sollten oder dafür taugen. Der Fotostil (inkl. Bearbeitung) sollte dann aber auch zum Modell passen – oder man wendet mit viel Geschick und Erfahrung die richtigen Tricks an, was eben für Anfänger kaum zu meistern ist.

Zu den richtigen Tricks gehört weiches Licht, das aber nicht vollausleuchtet sondern eben die Gesichtsstrukturen und -merkmale gezielt kaschiert oder verstärkt. Merke: Weiches Licht heißt nicht zwingend diffuses, ungerichtetes Licht!
Zu diesen Tricks gehören auch ein fein abgestimmtes, typgerechtes Make-up (das hilft auch gegen Reflexe auf der Haut) und ein stilsicheres oder neutrales Ambiente.
Man kann über den aquamarin-farbigen Hintergrund sicher streiten, aber mir gefällt er nicht. Viel zu bunt, zu hell und zu sehr nach Aufmerksamkeit schreiend ist er.

Auf die Beleuchtung möchte ich noch ein wenig mehr eingehen. Das Foto wirkt, entgegen Jürgens Beschreibung, eher so als sei mit einer direkten, recht harten Lichtquelle beleuchtet worden. Das Licht war zudem fast frontal (ein wenig höher als frontal) positioniert. Dafür sprechen der recht klare Schatten unter dem Kinn und der im Auge reflektierte Lichtpunkt. Bei einer indirekten Lichtquelle wäre das Licht nicht auf das Model, sondern z.B. auf eine Wand gerichtet gewesen, die das Licht gestreut hätte. Der Augenreflex hätte dann in etwa die Form dieser Wand wiedergegeben.
Das einem eingebauten Kamerablitz nahe kommende Licht gehört zu den unschönsten Ausleuchtungen, wenn man sich nicht gerade an High Fashion-Aufnahmen mit jungen, erfahrenen Models versucht (und selbst dann wäre es nicht meine 1. Wahl).
Ich vermute, Jürgen hat mit einem Diffusor versucht, dieses Licht weicher zu machen – leider mit wenig Erfolg.

Mit rot habe ich markiert, was auf das direkte, harte Licht hinweist. Die lilafarbene Markierung umreisst den Kopfschatten.

Das die Position des Lichtes nicht optimal gewählt war, sieht man auch am dunklen Fleck hinter dem Modell. Dabei dürfte es sich um den (Kopf-)Schatten des Modells handeln. Um das zu verhindern, hätte das Licht höher oder deutlich mehr seitlich platziert werden müssen. Ausserdem empfiehlt es sich, das Modell weiter vom Hintergrund weg zu positionieren. So würde der Schatten ausserhalb des Bildausschnitts oder (aus der Perspektive unsichtbar) hinter dem Modell projeziert.

Ein Tipp zum Posing:
Dreht das Modell den Kopf und die Schultern ein klein wenig weiter zur Kamera (es geht hier nur um wenige cm), sind die Augen besser zu sehen und das Modell wirkt etwas präsenter. Hier scheint die Körperhaltung ein bißchen so, als sei das Modell vom Fotografen kurz von etwas anderem (links ausserhalb des Bildes) abgelenkt worden, um ein schnelles Foto zu machen.

Es bekommt, zusätzlich zur Beleuchtung, dadurch noch mehr “Schnappschusscharakter” und wirkt weniger wie ein gezielt gestaltetes Bild.

Als letztes möchte ich noch kurz auf technische Aspekte des Bildes eingehen.
Das Foto wirkt relativ unscharf/verwaschen (auch die unbearbeitete Variante, die Jürgen mir ebenfalls zur Ansicht überlassen hat), was auf ein minderwertiges Objektiv und eventl. schlechte Qualität der JPEG-Wandlung/-Komprimierung hindeutet.
Zum anderen resultiert die Unschärfe aus der Zeit-/ Blendenkombination, die ich den EXIF-Daten entnehmen kann. Blende 4 ist selten das Optimum für die Leistung eines Objektives und zudem befindet sich nur das hintere (von uns aus linke) Auge noch in ausreichendem Tiefenschärfebereich. Bei einer so starken Kopfdrehung und so geringem Motivabstand reicht die Tiefenschärfe bei dieser Belnde nicht aus, um beide Augen scharf wiederzugeben.
Zusammen mit der relativ langen Verschlusszeit von 1/60 ergibt sich ein weiteres Problem: Es ist wahrscheinlich, dass das Bild ebenfalls verwackelt wurde. Jürgens Auskunft nach gab es recht viel Umgebungslicht zur Zeit der Aufnahme. Bei den Kameraeinstellungen ist anzunehmen, das ein Teil davon in die Belichtung des Bildes mit eingeflossen ist.
1/60 ist für die Brennweite von 97 mm jedoch zu lang, um sicher verwacklungsfreie Aufnahmen zu erhalten.

Damit bin ich voerst am Ende der diesmal ziemlich umfangreichen Bildkritik angelangt. Ich hoffe, Jürgen nimmt es nicht zu hart auf und er und Ihr konntet etwas daraus mitnehmen.

10 Kommentare zu „Bildkritik 1: Portrait von Jürgen aus Wien“

  1. Finde ich super wie du hier Tipps gibst. Alles noch garniert mit passenden Beispielbilder. Der Text ist sehr verständlich und nicht belehrend sondern lernend geschrieben. *Daumen hoch* für eine so ausführliche Bildkritik

  2. Hallo,

    ich bin dir für deine Kritik meines Bildes dankbar und fasse es überhaupt nicht als zu hart auf, sondern als sehr klar verständlich und auch erklärend, wie so ein Problem überhaupt entstehen kann. So eine Chance zur Beurteilung bekommt man nicht oft (eigentlich gar nicht) und nur so kann ich daraus lernen – dafür vielen Dank!

    Ich habe schon nach dem Shooting gesagt, dass (aus meiner Sicht) die Portrait-Fotografie um einiges schwieriger ist, als man es sich anfangs vorstellt. Es ist nicht einfach ein “Model hinstellen, abdrücken”, man muss sich einfach damit auseinandersetzen und einiges beachten! Das habe ich versucht, aber dabei einige andere Dinge nicht beachtet oder einfach übersehen.

    Darum nochmals danke für die Kritik und die Möglichkeit, die du hier einem anbietest!

    Jürgen

  3. Das ist eine echt tolle Bildkritik! Nicht nur meckern, sondern meckern und dann sagen wie man es besser/ richtig macht!
    Da könnte ich dir ja auch mal mein lieblingsbild von dem ALL4ONE Doubleshooting in Heidelberg schicken. Wäre echt gespannt was man da noch verbessern könnte!
    Falls du also noch Resourcen hast.

  4. Die Idee ist Klasse wie schon meine Vorredner bemerkten nicht nur Kritik sondern auch Verbesserungsvorschläge nur so kommt nan/frau weiter :-). Ich hätte da auch ein Favorit von dem ALL4ONE Doubleshooting in Heidelberg
    welches ich Dir schicken könnte aber ich glaube eins welches ich eigenständig also nicht auf einem Workshop gemacht habe ist da besser geeignet.
    LG Anita

  5. Super Kritik. Hast dir reichlich Mühe gemacht.
    Finde sie vom Niveau auch um einiges besser und vor allem lehrreicher als das Vorbild, an welches du diese Kritik-Serie vermutlich anlegst.

  6. Hallo, ich finde Bildkritik sehr gut. Lustig finde ich aber das Beispielbild. Bei dem das Hauptlicht von unten kommt, wo man doch eigentlich ueberall liest, das es ueber den Augen gesetzt werden soll. Mir gefaellt das Bild zwar irgendwie, aber trotzdem faellt es durch die Schatten oberhalb der Nase und am Schluesselbein sofort auf. Es ist halt doch oft Geschmacksache. Hauptsache die Schatten sind da wo man sie als Fotograf haben moechte.

  7. Ins Leben gerufen- und schon passiert. Beides ist Klasse in der Umsetzung. Und so bekommt mehr die Motivation, genau zu sehen und sich Gedanken zu machen. Danke.

  8. Eine sehr gute Kritik, ließt man selten so etwas. Besonders der Teil mit dem Bildaufbau finde ich gut gelungen. gibt doch schon viele die an so etwas nicht denken obwohl das an sich wichtig ist.
    bin mal auf deine nächste Kritik schon gespannt.

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